Mittwoch, 6. Mai 2020

Kaufsucht und ein Brief von Sigmund Freud



Kirill: „Ich bin kein Jugendlicher. Seit 35 Jahren interessiere ich mich für Musik und spiele Gitarre. Und ich abonniere elektronisch eine Gitarrenzeitschrift und lese sie jeden Monat. Da gibt es manchmal sehr interessante Artikel über das Gitarrenequipment, unter anderem über Gitarreneffekte und Pedale. Manchmal rennt die ganze Gitarrenwelt einem Pedal hinterher. Auf YouTube kann man sie alle finden und sich anhören. Das mache ich sehr gerne. Ich abonniere sogar manche YouTube-Kanäle mit Demonstrationen, die mir am meisten gefallen. Google schickt mit auch immer wieder Werbung zu den Geräten, für die ich mich einmal interessiert habe, obwohl ich niemanden darum gebeten habe. Irgendwann spüre ich einen sehr starken Wunsch, ein Pedal zu kaufen. Immer sage ich mir, dass es das letzte Mal ist, obwohl alles im nächsten Monat vom Neuen anfängt. Die Pedale werden in Amerika von kleinen Familienfirmen produziert und sind ziemlich teuer. Obwohl ich früher nie daran gedacht habe, weiß ich mittlerweile nicht, wo ich alle Pedale aufbewahren soll. Meine Frau versucht, sich darin nicht einzumischen. Aber ich würde ihr die ganze Wahrheit auch nie sagen. Manche Pedale muss ich im Büro halten, weil es keinen Platz dafür zu Hause gibt. In den letzten 2 Jahren habe ich mir jeden Monat einen Gitarreneffekt angeschafft, obwohl ich es mir nicht immer leisten konnte. Jetzt möchte ich damit Schluss machen, aber ich weiß nicht wie. Es scheint schon eine Kaufsucht zu sein. Früher habe ich überhaupt ohne Effekte gespielt. Jetzt kaufe ich mir im Internet immer neue Pedale, obwohl ich vielleicht nur drei oder vier davon wirklich brauche.“

Kirill


Das ist meine Antwort auf den Beitrag von einem kaufsüchtigen Mann, der Kirill heißt.

Sehr geehrter Herr Kirill!

Mein Name ist Sigmund Freud, ich bin auch kein Jugendlicher und mir ist Ihr Problem auch nah. Es geht um Ihre Mitteilung im Blog, die ich mit großer Aufmerksamkeit gelesen habe. Wenn Sie nicht dagegen sind, würde ich mit Ihnen einige Gedanken teilen. Mein Brief wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmenmir kommt es aber darauf an, dass er bis zum Ende gelesen wird.
Ich muss zugeben, dass ich mich schon seit langen Jahren mit der Psychoanalyse beschäftige, und kann mit der ganzen Verantwortlichkeit sagen, dass Sie das Opfer der Werbung sind. Leider ist das heute ein ziemlich typischer Fall und die Werbung nimmt auf schwache Menschen einen starken Einfluss. Aber es liegt nicht nur an der aggressiven Werbung, sondern auch an der gewöhnlichen menschlichen Eigenschaft, die uns als der Neid bekannt ist. Ja, ja, ich will Ihnen nicht Angst machen, aber die Ursache ist eben das.
Ich nehme Bezug auf meine tiefe wissenschaftliche Studie, deren Ergebnisse weltweit Anerkennung gefunden haben. Der Neid ist die erste Eigenschaft, die bei den Homo sapiens erschienen ist. Ein Affe hat bei dem anderen Affen eine größere Banane gesehen und sie greifen wollen. So sind unsere Gefühle erschienenDas steht außer Frage und ich habe es in meinen Arbeiten unter Beweis gestellt.
Welchen Ratschlag kann ich Ihnen geben? Den “unbewältigten” Wunsch kann man bewältigen. Zur Lösung des Problems kommen abwechslungsreiche Möglichkeiten in Betracht. Zuerst müssen Sie Ihre Sucht erkennen. Aber ich komme zum Schluss, dass Sie diesen Punkt schon vollbracht haben. Dann müssen Sie dieser Krankheit (D.) zu widerstehen beginnen. Da möchte ich ein merkwürdiges Beispiel anführen. Mein guter Bekannter hat einen lustigen Zaubertrick erfunden. (Ihn ließ die Kaufsucht auch nicht los.) Bevor er etwas kauft, zählt er bis hundert. Falls sich der Wunsch nicht in Luft auflöst, lässt er sich den Kauf leisten, den Kauf zu leisten. Aber er erzählt, dass er am häufigsten vorbei geht.
Ich bin gezwungen, meinen Brief zu beenden, weil meine Patienten auf mich warten. Seien Sie gesund.

Mit freundlichen Grüßen
Sigmund (gezeichnet von Andrej Orechow)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen